ivii78 – Episode 15

-Sklave-

Gefangen in einem Palast aus warmer Kaminluft und verstaubten Kinderfotos, blicke ich auf dem Sofa liegend an die Decke. Die Zeit höchstpersönlich scheint neben mir zu liegen, hat die Sprintschuhe ausgezogen und die Beine hochgelegt. Nur keine Eile! „Diese ganze Hektik wird keinem von uns vor Dingen bewahren, die weh tun!“… Ich denke nach über diesen Satz, den meine Oma so beiläufig erwähnt.

„Ganz im Gegenteil! Wenn jemand sich das, was er tun will, in einen Kalender eintragen muss, damit er es nicht vergisst, hat er den Respekt vor all diesen Dingen oder Menschen verloren. Dieser Mensch ist nur noch ein Sklave von Verpflichtungen.“
Ich drehe mich auf die Seite. „Aber du bist doch auch genau so ein Sklave deiner Verpflichtungen? Ob man sie nun aufschreibt oder sich merken kann, spielt doch keine Rolle.“
Meine Oma lächelt und steht auf. Sie geht in die Küche. „Möchtest du auch einen Tee?“, ruft sie.

Obwohl meine Oma im Grunde keinen anderen Tee als ich selber kauft, schmeckt ihrer besser. Er schmeckt lebendiger. Er schmeckt reeller und ich verbrühe mich nicht so schnell daran. Wieso hat bei Großeltern alles irgendwie mehr Seele als bei jungen Menschen?

Meine Oma nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse und lehnt sich zurück. Ich beobachte sie dabei und erkenne, dass jede Faser ihres Körpers erst auf das Trinken und dann auf das Zurücklehnen konzentriert ist. Habe ich schon jemals in meinem Leben eine bewusste Alltagsbewegung vollzogen? Ich erschrecke vor mir selbst, als ich merke, dass auch ich mich inzwischen hingesetzt und vom Tee getrunken habe.

„Ein Bauer, der 10 Rinder hat, kennt alle seine Rinder beim Namen und er ist auch für die Rinder so oft präsent, dass auch sie ihn kennen lernen. Wir alle sind Sklaven unserer Bedürfnisse. Der Bauer füttert seine Rinder und die Rinder füttern irgendwann den Bauern. Aber Bedürfnisse sind Verpflichtungen, die einem unumgänglichen Zweck dienen und die ein respektvolles und fürsorgliches Miteinander voraussetzen. Ein Bauer hingegen, der 200 Rinder hat, … du kannst dir denken, worauf ich hinaus will. Was daran fürsorglich oder respektvoll sein soll, Aktivitäten in einen Zeitplan zu quetschen, das muss man mir auf meine alten Tage wirklich noch mal erklären. Und ganz bestimmt gibt es zwischen vielen dieser Terminteilnehmer keine weitere Beziehung als das Geldverdienen und wenn deine Verpflichtung dich zu Taten zwingt, ohne dass Respekt und eine tiefere Beziehung existieren, dann empfinde ich das so, als würde ein Herrscher einen Sklaven vor sich her treiben.“

Ich ertappe mich, wie ich mit tiefen Furchen auf der Stirn in meinen Tee starre. „Aber es ist halt leider anders kaum möglich, sein Leben so aufzubauen, dass man so viel Geld verdient, dass man damit zufrieden seine Tage gestalten kann.“
„Das einzige, was dich zufrieden machen kann, ist Liebe! Die Liebe zwischen Familienmitgliedern, zwischen Freunden oder zwischen Mann und Frau… Oder zwischen Partner und Partner, heutzutage spielt das ja nicht mehr so eine Rolle, wer was ist und weshalb. Aber am Ende zählt die Liebe! Und wer sich zum Sklaven macht, der verlernt zu lieben. Wer zu viel macht, schafft keine Wertschätzung für das, was er tut und was resultiert daraus? Er verlernt zu lieben. Wer auf zu vielen Hochzeiten tanzt, ist zwar immer da, wenn man ihn braucht, aber schon wieder weg, wenn man ihn lieben möchte. Und was bedeutet das? Er verlernt auch, sich lieben zu lassen. Es hat einen guten Grund, wieso viele Menschen auf der Welt den Tod in Kauf nahmen, um zu verhindern, dass es weiterhin Sklaven gibt. Aber die Herrscher der Welt haben einen neuen Weg gefunden, sich Sklaven zu halten. Und den meisten ist es egal, weil sie verlernt haben, zu lieben oder sich lieben zu lassen. Es fehlt ihnen ja also am Ende auch nichts. Noch nicht…“

Ich trinke meinen Tee aus und lege mich wieder auf das Sofa. Neben mir liegt die Zeit. Sie hat ihre Sprintschuhe wieder angezogen und zwinkert mir mit einem Auge zu… Dann ist sie weg…

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Episode 14

-Sehnsucht-

Regen.
Der Regen streichelt mit sanfter Hand über ihren Nacken. Er küsst ihre Stirn und flüstert in ihr Ohr, dass das Leben wieder und wieder ihre Seele entzünden wird. Er, der Regen, werde aber zur Stelle sein. Er werde das Feuer löschen. Es mit einem feuchten Tuch ersticken bevor es so heftig brennt, dass die Blume in der Brust des Mädchens verglüht, bevor sie richtig blühen konnte. Das Mädchen dreht ihren MP3-Player lauter. Der Regen stimmt in das Lied mit ein.

Regen.
Der Regen reißt tiefe Gräben in die Gedanken des Jungen. Sie ging nach links, er geht nach rechts. Sie denkt nach Norden, er nach Süden. Das ist Liebe. Könnte es zumindest sein. Menschen zu vermissen, die wie ein eckiger Klotz deine runde Seele zerbeulen. Liebe ist ein Schmerz, dessen Ursprung du kennst. Kummer ist die Angst, diesen Ursprung zu verlieren. Ein glückliches Leben ist der Wechsel von unergründlichen Schmerzen zu durchschaubaren Schmerzen.
Wieder zerschneidet ein kühler Tropfen den Gedanken des Jungen und als er von seinem Gesicht abprallt und wie die anderen Tropfen seinem Tod auf dem nassen Boden entgegen rast, ruft er mit letzter Energie: „Lass sie nicht gehen!“

Dunkel.
Mit dem Rücken zur Wand steht Sie in einer dunklen Gasse und schaut ängstlich über die Straße. Auf der anderen Seite des angrenzenden Parks schaut ein Junge auf den Boden und malt mit seinem blutenden Herzen den Namen seiner Angebeteten in die Luft.
Die Gasse hinunter geht ein hübsches Mädchen und wischt sich verwirrte Tränen aus ihrem stolzen Gesicht.
Plötzlich streift eine streunende Katze Ihre Beine. Mit ihrem vernarbten Gesicht schaut die Katze zu Ihr hinauf und fragt: „Wer bist du, dass du dich hier versteckst, wo du doch anderswo so dringend benötigt wirst?“
„Ich ziehe mich zurück. Mir geht es nicht gut. Ich könnte sterben.“
„Ach? An was leidest du denn, dass du sterben könntest?“
„Ich bin schlecht genährt, habe oft das falsche gegessen. Ständig werde ich falsch verstanden oder verstehe selber andere falsch. Mal gibt es Momente, da pflegt und verwöhnt man mich, nur um mich einige Sekunden später mit doppelter Intensität zu verletzen. Und oft sind die, zu denen ich Vertrauen bekomme, diejenigen, die es mit mir am Schlimmsten meinen.“
„Nun, da geht es dir wie mir. Deine Worte könnten von mir stammen. Oft ergeht es mir so. Doch meistens nur dann, wenn die Hand, die mich füttert nicht weiß, wie es mir ergeht, wenn sie mir Schlechtes antut. Ich habe mich oft versteckt und den Kummer und das Leid triumphierend durch die Gassen schlendern lassen und habe mich nur blicken lassen, wenn sie fort waren. Kamen sie zurück, habe ich mich sofort wieder verkrochen. Jedes Mal. Und nichts besserte sich. Bis ich eines Tages vergaß, mich zu verstecken und als ich sie sah, den Kummer und das Leid, da musste ich kämpfen. Wir schlugen, traten, kratzten und bissen uns. Bis auf’s Blut. Und mit letzter Kraft schleppte ich mich zu dem, der den Kummer und das Leid einlud. Als er mich sah, erschrak er. Ihm war nicht klar, was er zuvor getan hatte. Ihm war es niemals aufgefallen, doch da nahm er und pflegte mich. Er sah die Welt danach anders. Er wachte in diesem Moment auf. Er behandelt mich seitdem gut und wenn sich der Kummer oder das Leid durch unsere Straßen treiben, ziehen wir gemeinsam los, um sie wieder zu verjagen.“
Die Katze leckte ihre Pfotze, schaute sich kurz um und zog dann ohne einen Abschiedsgruß weiter.

Licht.
Ich könnte sterben. Ich könnte sterben und wäre alle Sorgen los. Ich könnte streben. Das würde alles sehr einfach machen. Dann lächelt Sie.
Sie atmet tief durch, dann rennt Sie zu dem Jungen, reißt ihn von seiner Bank hoch und zieht so fest Sie kann an seinem Herzen, zieht ihn zu dem Mädchen. Der Junge rennt, rennt so schnell er kann.
Sie ist eher bei dem Mädchen. Sie nimmt das Mädchen und dreht es um. Das Mädchen wischt sich den Regen und ihre Tränen aus den Augen und sieht den Jungen heranstürmen. Kurz vor ihr hält er an. Sie rennen sich nicht in die Arme. Noch liegt eine erdrückende Schwere in der Luft.
„Wieso bist du hier?“, fragt das Mädchen.
„Die Liebe hat mich zu dir gebracht. Die Liebe!“

regen

Regen.
Ein etwas verwirrter aber glücklicher Junge umarmt sein skeptisches aber glückliches Mädchen im strömenden Regen. Die Liebe lächelt überlegen dem Kummer und dem Leid am Ende der Gasse zu.

-Ende-


Episode 13

-Rückflug-

‚Ein echtes Wunder, dass man in dieser Einöde mit der ganzen Welt verbunden bleiben kann‘, dachte er und öffnete seinen Laptop. Nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, kam es zu einem wochenlangen Streit um Hab und Gut. Nicht, dass er sich mitstreiten wollte, aber alles, was er seiner Ex zugestand, reichte wieder und wieder nicht aus. Dass sie gierig ist, wusste er schon immer, dass sie maßlos ist, war ihm irgendwie bewusst, dass sie aber auch unersättlich ist, ekelt ihn inzwischen an.
Er öffnete das Fenster. Es duftete nach Frieden. Vom See winkte die Sonne im Takt der vorüberziehenden Wolken und im Dorfhaus erklang wie jeden Abend fremde zuckersüße Musik.

Bevor ihm seine Ex-Frau noch das letzte nehme, was er sich über Jahre erarbeitet hatte, oder besser gesagt, was er IHR über die Jahre erarbeitet hatte, solle er doch gefälligst noch mal um die Welt reisen. Orte, von denen andere nur hören, Landschaften, von denen viele nur träumen. Der Rat seines besten Freundes stieß bei ihm auf fruchtbaren Boden. Und Geld, dass er nicht mehr habe, könne sie auch nicht einklagen. Ein Lächeln kroch auf sein Gesicht, während er aus dem Fenster schaute und zusah wie die Sonne ihre letzten Minuten nutze, um alles Leben mit Wärme zu füllen, so dass die dunklen Stunden bis zum Morgen keine unangenehme Zeit werden.
Lachende Kinder rannten durch die Straße vor der Pension und aufgeschreckte Vögel erfüllten die Luft mit einem schimpfenden Farbenschauer, der sich nach wenigen Sekunden wieder wie Morgentau auf die grünen Äste der eigentümlichen Bäume legte. Sein Herz klopfte. Fast sei es, als würde diese Reinheit des Seins seiner Seele Flügel verleihen und den Ballast der Konsumgesellschaft mit selbstverständlicher Leichtigkeit ersticken.
Die ältere Dame aus dem Nachbarhaus lächelte freundlich zur Pension hinüber.

Ein unangenehmes Geräusch zerriss den Tagtraum. Der Laptop war hochgefahren. Alle zwei Tage sollten die Mails geprüft werden, denn die Firma befand sich in einer wichtigen Phase. Die Bankenkrise, die Eurokrise, politische Unsicherheiten und Kriege in Ländern mit gut zahlenden Partnern sorgten für Verunsicherungen bei den Chefs und der Urlaub wurde nur geduldet, weil eben jene Möglichkeit bestand, sich weltweit per Email ins Geschehen einzuklinken.

—–

Sehr geehrter Kollege,

ich hoffe weiterhin, Sie haben einen entspannten Urlaub, wenngleich ich Ihren Zeilen keinen Glauben schenken kann. Sie waren ja noch nie in Kitzbühl im besagten Wellness-Hotel, so dass ich wirklich lachen musste, als Sie schrieben, dass Sie in Ihrer Hütte dort alles bekämen, was das Leben lebenswert macht.

Im Anhang finden Sie eine Umbuchungsbestätigung. Wir waren so frei, Ihnen den Rückflug schon am Samstag, nicht erst am Sonntag, zu ermöglichen. Zum einen sind Sie dann am Montag fit für die wichtigen Meetings, zum anderen hat die Maschine am Samstag einen wundervollen Duty-free-Katalog. Die Lederartikel sind von ausgezeichneter Qualität. Dort einkaufen, DAS wird sie glücklich machen und nicht eine Flucht in die Einöde.

Bitte laden Sie sich über folgenden Link unsere Strategiepläne für Montag runter und bereiten Sie sich so gut es geht vor, auch wenn Ihnen mit Ihrer Erfahrung vermutlich das Meiste bekannt vorkommen dürfte. Die Wortführung werde ohnehin ich übernehmen, Sie werden in erster Linie Fragen zu ihren Fachgebieten beantworten. Die Zahlen, die wir rausgegeben haben, sind im üblichen Sinne etwas modifiziert, so dass unsere Argumente überzeugen sollten.

Denken Sie daran, dass morgen wichtige Weichen gestellt werden, die im Anschluss zu Entscheidungen führen, die die Welt bewegen. Denken Sie daran, in Kooperation mit unserer Bank könnten wir es schaffen, dass wir auch die Stromkonzerne von unserer Philosophie überzeugen. Das könnte für Sie 50% mehr in Ihre Tasche bedeuten. Dann klappt es auch mit dem Urlaub in Kitzbühl.

Am Dienstag stelle ich Ihnen dann noch ein Konzept vor, dass lebensnotwendige Veränderungen in der Firmenstruktur umsetzt. Damit die Führungsetage keine verringerten Profitwachstumsraten in Kauf nehmen muss, haben wir über unsere politischen Partner eine entsprechende Gesetzgebung verzögert, die verhindert hätte, die entstehenden Kosten auf die Konsumenten umzulegen. Aus der Ihnen letze Woche vorgestellten 2,3-prozentigen Erhöhung werden nur drei einprozentige Erhöhungen über einen Zeitraum von 15 Monaten UND wir können auf Steuerentlastungen zurückgreifen, weil wir die angekündigte Personalreduzierung durch Kooperationsaufträge in Strukturförderregionen der EU ausgleichen. Wenn Sie da in den nächsten Wochen Gas geben, kann ich Ihnen versprechen, dass Sie sich dieses Jahr Weihnachten eine goldene Tanne ins Wohnzimmer stellen können. (Sofern Ihnen Ihr Haus dann noch gehört! – Kleiner Scherz am Rande)

Rufen Sie mich bitte Sonntag gegen Mittag an und lassen Sie uns kurz vereinbaren, wie wir am Montag verfahren.

Ich wünsche einen angenehmen Rückflug und bringen Sie mit irgendwas Schickes mit. Dort wird ja zu fantastisch günstigen Preisen produziert und die Leute freuen sich sogar, wenn man ein paar Cent Trinkgeld gibt. Davon sollten sich unsere gierigen Angestellten in Europa mal eine Scheibe abschneiden.

Mit freundlichen Grüßen.

—–

Hier unten am Grund des Sees war es etwas dunkel, aber man konnte lesen, was vom Laptop-Bildschirm über den schlammigen Boden strahlte. Die Wasserschnecke schüttelte mit dem Kopf und sagte: „Kein Wunder, dass die Menschen ihren Müll in unseren See schmeißen!“
Sie blickte zum Karpfen hoch, der grimmig Richtung Ufer schaute. „Wenn ich Reißzähne hätte, würde ich diesen Typen zur Strafe beißen! Morgen… Wenn er wiederkommt und sich zufrieden grinsend ans Ufer setzt und seine weißen stickenden Füße ins Wasser baumeln lässt!“
„Hier ist noch eine Krawatte und ein Handy und dort das könnte eine Kreditkarte sein.“ Aufgeregt hetzte der kleine Süßwasserkrebs durch die zum Grund sinkenden Gegenstände. Meistens war er der Erste, der etwas Brauchbares fand.
Die Wasserschnecke ging gemütlich ihres Weges und der Karpfen grunzte immer noch Richtung Ufer.

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Aus dem Fenster der Pension blickte ein lächelnder Mann auf einen ruhigen See. Irgendwie passte er nicht in diese Gegend, aber diese Gegend passte zu ihm. Von all der Hektik unter der Oberfläche bemerkte er allerdings nichts. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht in den kommenden 62 Jahren.

-Ende-


Episode 12

-Reise-

„Möglicherweise“, sagte mein Großvater: „Möglicherweise bist du, der du dich tätowiert hast, der einen vollen Bart im Gesicht hat und der du jedes Wochenende laut schreiend durch die Diskotheken hüpfst, doch nur ein Nichts in dieser toten Gesellschaft. Ein Nichts im Nichts! Und auch deine Schwester mit ihren langen schönen Beinen und ihren leuchtenden Augen stolziert auf einer Wolke falscher Bestätigungen durch die bunte große Stadt!“

Obwohl mein Großvater ein kranker gebrechlicher Mann war, kaum fähig aus seinem Lehnsessel aufzustehen, waren seine Worte voller Klarheit, voller Feuer und jugendlicher als jeder meiner Gedanken. „Was beklagst du dich, du hättest viel zu arbeiten und würdest dafür keine gesellschaftliche Anerkennung bekommen? Schreibst du mir das das nächstes Mal auf deine Postkarte aus dem sonnigen Spanien, damit ich weiß, dass du auch im Urlaub die Schwere deiner Seelenlast nicht abgelegt hast?“

„Lass den Jungen doch Urlaub machen!“ Meine Großmutter mischte sich in die Unterhaltung ein. „Liebste Frau, dass dein Enkel Urlaub macht, das sei ihm gegönnt, aber dass jemand, der mit seinem Mobilfunkgerät intimste Gedanken mit fremden Mädchen austauschen kann, ohne je die moralische Hürde des wachsamen Vaters, der neben dem Haustelefon sitzend der Tochter zuhört, überwinden muss, mir etwas darüber erzählen möchte, dass die Gesellschaft ihm das Leben schwer macht, der hat es nicht verdient, meinen Nachnamen zu tragen! Geht der junge Herr mit seinen gefährlichen Tattoos den auch mal raus auf die Straße und kämpft für mehr ‚Gerechtigkeit‘, streitet sich für seine Überzeugungen oder informiert wenigstens andere darüber, was seiner Meinung nach falsch läuft?“

Irgendwie hatte er Recht, ich saß ja tatsächlich die meiste Zeit zu Hause und spielte über meine Facebookseite der Menschheit vor, jemand zu sein, der ich nicht war. Mit gestellten Fotos, um aufregend zu wirken, mit geklauten Statussprüchen, um intelligent zu wirken und mit pseudorebellischen Links, die suggerierten, ich sei engagiert. Ich war ja auch irgendwie engagiert. Ich wusste ja meistens, wie die Tabelle der Fussball-Bundesliga aussah und ich hatte eine gigantische Sammlung von Telefonnummern hübscher Frauen, die ich alle regelmäßig mit identischen witzigen Kurztexten über Whatsapp fütterte. Ich fühlte mich irgendwie besonders, war aber vermutlich einfach nur besonders normal.

Ich hatte nun also zwei Möglichkeiten, um meine Situation zu ändern und die Worte meines Großvaters zu widerlegen. Entweder musste ich mich tatsächlich engagieren, tatsächlich etwas tun und tatsächlich rebellieren, die Gesellschaft aufregen, meine Zukunft aufs Spiel setzen, um überhaupt erst eine lebenswerte Zukunft zu bekommen. Ich konnte also einerseits das tun, was mein Großvater geschätzt hätte, oder aber ich konnte das genaue Gegenteil tun. Noch scheinheiliger, noch niveauloser und gleichzeitig dadurch noch normaler im Sinne unserer kranken Gesellschaft werden als ich ohnehin schon war.

So gleite ich also hier und überlege, was mich immer wieder dazu veranlasst, das verdammt noch mal Falsche zu tun? Selbstverständlich habe ich zu viel getrunken, hatte zu viel Sex, der im übrigen ungeschützt mit für ihre zügellose Zuneigung stadtbekannten Damen stattfand und… Moment… Sex…? Stattfand…? Nicht ein mal die intimsten Tätigkeiten lösen bei mir noch ein emotionale Regung aus. Ist das 2011? Ist das das Los unserer Generation? Dass wir allen Spaß der Welt haben und in diesem Sumpf aus Fun und Freude überhaupt nicht mehr erkennen, dass wir durch einen Nebel aus Zuckerwatte gleiten. Diese süße Masse, die unseren Augen schmeichelt, die unsere Genussnerven kitzelt, uns aber von innen zerfrisst?

Kurz denke ich, dass ich vielleicht lieber hätte etwas höher… Aber naja… Es müsste eigentlich reichen… Hoffentlich…

Was ich hier jetzt gerade mache und wem ich damit etwas beweisen will, weiß ich nicht. Aber wenigstens ist das jetzt gerade nicht ganz so normal. Wobei… Was ist schon unnormal? Wenn ich jetzt gerade, also hier und währenddessen, noch Oralsex mit einem Rehpinscher hätte, dann eventuell, würde man die morgige Schlagzeile über mich auf Facebook finden. Ändert das etwas an der Gesellschaft? Oder an mir? Oder an euch? Meine Großmutter sagte an dem Tag, an dem mein Großvater mir diese Standpauke hielt noch etwas, dass mir auch im Kopf blieb: „Liebster Mann, wenn du unserem Enkel etwas mitteilen willst, was er sein Leben nicht vergisst, dann nicht durch laute Worte. Leb es vor, damit er es sieht, lobe ihn, wenn er es nachlebt, damit er es fühlt und lass ihn von anderen hören, wie du mit Stolz über ihn erzählst, damit er nie aufhört, dir ein guter Enkel zu sein!“ …

Hätte ich mich an diesen Satz doch nur zwei Sekunden eher erinnert…

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Episode 11

-Lächeln-

Noch vier Tage

Seine Augen leuchten. Sie leuchten fast heller als die Sonne, die an diesem Sommertag ihr breitestes Lächeln aufgesetzt hat. Drei Kugel? Vier Kugel? Sechs? Die Mutter lächelt sanft und bezahlt den grauen Mann hinter dem Tresen. Als sie den Laden verlassen, blickt sie in Augen, die ihr Glück gar nicht fassen können. Vanille, Schokolade. Pistazie, Erdbeer. Noch mal Pistazie und zum Schluss ein mal die Vanille mit Schokostückchen. Stracciatella hieße diese Sorte. Und alles in einer Waffel!

Noch drei Tage

Das Aufstehen fällt ihr schwer. Schlaf ist etwas, das sie nur noch aus der Erinnerung kennt. Als sie die Tür öffnet, rennt ihr alles was es wert ist zu leben nackt in ihrem Arme. Eine Umarmung. Ein Kuss. Ein Lachen. Dieses Lachen hat sie schon unzählige Male erlebt. Dieses Lachen! Das Lachen, das sie nicht mit ihren Ohren, sondern mit ihrem Herzen hört. Und dann tausend Worte. Nicht nacheinander, sondern nebeneinander.
Der Tag sei unerträglich heiss. Jetzt schon, um kurz vor neun Uhr morgens. Aber wenn der Pool aufgebaut sei, könne man es ertragen. Vorsichtshalber sollte man ohne Kleidung den Tag beginnen, man laufe sonst Gefahr, so viel zu schwitzen, dass man ganz weich und matschig werde. Nudeln würden auch bei Hitze weich und matschig. Zumindest, wenn man sie im Topf schwitzen ließe.
Die Mutter lächelt sanft. Dann geht sie ins Wohnzimmer und führt ein langes Telefonat. Das Lächeln ist verschwunden.

Noch zwei Tage

Wieso Tiere nicht lesen könnten? Die Mutter überlegt kurz, aber eine sinnvolle Antwort fällt ihr nicht ein. Tiere können alles sehen, was Menschen auch sehen, aber für die Tiere haben die menschlichen Zeichen und Zahlen keine Bedeutung. Ob es dann nicht ein viel schöneres Leben sei, ein Tier zu sein? Schließlich könne man sich einfach selber aussuchen, wie viel man für ein Eis bezahle. Der Mann hinter dem Tresen dürfte sich ja nicht beschweren, wenn man nicht die richtige Zahl auf dem Geldstück erkennt. Das könne man doch ausnutzen. Das sei doch total schlau. Und wenn ein Schild sagt, dort müsse man langsam fahren, könne man einfach ohne zu bremsen weiterfahren und die Polizei dürfe nichts sagen.
Die Mutter lächelt sanft. Nachdem sie ihren Sohn angeschnallt hat, fahren sie los. Sie fragt ihren Sohn warum er plötzlich so still sei. Er möge die Frauen dort nicht, sie würden stinken. Kurz ist es ruhig, dann stellt er wieder Fragen über Tiere.

Noch einen Tag

Alles erledigt. Die Liste ist abgehakt. Alles erledigt.
Alle erledigt.
Die Mutter versucht sich zu konzentrieren, aber immer und immer wieder verschwimmt der Text auf den Zetteln. Eigentlich kann sie die Zeilen inzwischen auswendig. Aber sie hofft weiterhin, etwas übersehen zu haben, das aus ihrem sanften Lächeln wieder ein lebendiges Lachen machen kann. Ein Lachen, wie sie es den ganzen Morgen bereits aus ihrem Garten hört. Sie stellt sich ans Fenster und blickt auf das glücklichste Kind der Erde. Sie lächelt sanft. Dann dreht sie sich wieder ab und geht gefasst in Richtung Badezimmer. Auf dem Flur werden ihre Schritte ungleichmäßiger. Hektischer. Unsicher. Sie beeilt sich und schließt die Tür von innen zu.
Die Sonne strahlt mit all ihrer Kraft und beleuchtet für den lachenden Jungen die wundervolle, farbenfrohe Welt. Die Sonne weiß, was hier geschieht. Sie strahlt heller und heller. Sie versucht es. Sie schickt die Wolken fort und befiehlt den Vögeln zu tanzen und zu singen. Noch nie, seit es die Erde gibt, hat sich die Sonne so sehr bemüht, die Welt und all das Glück und die Freude, die auf ihr wohnen, zu bescheinen.
Doch in des Badezimmer dringt nicht ein einziger Lichtstrahl. Nichts vermag es, in die Dunkelheit und Kälte, die die Mutter dort frei gelassen hat, einzudringen.

Heute!

Die Mutter lächelt sanft. Noch fünf Minuten brauche er. Er müsse so viel mitnehmen, wie er könne. Er atmet tief ein und nur ganz vorsichtig aus. Tief ein. Vorsichtig aus. Ein Eis könne sie ihm später vorbei bringen, aber das hier, das könne sie gar nicht tragen. Niemand kann es tragen, aber er habe herausgefunden, wie er es mitnehmen könne. Wie er SIE mitnehmen kann! Ganz vorsichtig spricht er diese Worte. Atmet dabei kaum aus. Danach wieder tief ein und vorsichtig aus. Dort gebe es leider viel zu wenig davon. Aber hier wäre alles davon erfüllt. Das Bett. Der Garten. Das Essen. Die Spielsachen. Das Sofa. Die Stehlampe im Flur. Das gelbe Lieblingskleid der Mutter. Die Nachbarskatze. Und vor allem die Luft. Die ganze Luft sei voll davon. Erfüllt von Liebe. Liebe, die man nur hier finde. Liebe, die hier in der Luft sei. Und die man in den Augen der Mutter erkennen könne. Man müsse nur immer so tun, als würde man nicht merken, dass die Mutter einen beobachte, dann könne man Augen voller Liebe sehen. Unsicher lächelnd blickt der Junge zu seiner Mutter.
In ihrer Hand hält sie eine Mappe mit medizinischen Unterlagen. Dazwischen klemmt eine Broschüre des Bestattungsunternehmens. „Noch zwei Minuten, dann müssen wir los.“ Die Mutter lächelt sanft. Der Junge dreht seinen Kopf wieder zum Ventilator und atmet so tief ein wie er kann.

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-Ende-


Episode 10

-Weit weg-

Einsamkeit?

Und noch immer dringt störender Straßenlärm an ihre Ohren. Sie dreht ihren MP3-Player auf Maximum, lehnt sich zurück und blickt aus dem Fenster des sich durch die Stadt quälenden Busses. Die fremde Stadt. Die neue Stadt. In einem neuen Land. Niemand kennt das Mädchen. Und auch das Mädchen kennt sich oft selbst nicht.

Zweisamkeit?

Mensch um Mensch schwebt am Fenster des Busses vorüber. Das Mädchen mit dem MP3-Player ist das Zentrum ihres Universums. Nicht der Bus bewegt sich durch die Stadt, die Welt bewegt sich um den Bus. Die Welt dreht sich. Um sie! Pärchen gehen nebeneinander auf dem Fussweg spazieren. Sie gehen in dieselbe Richtung. Sie haben dasselbe Tempo. Sie reden über dasselbe Thema. Aber sie sind dennoch getrennt. Die Frau sucht die Hand ihres Mannes. Der Mann sucht den Blick seiner Frau. Beide schauen enttäuscht ins Leere. Dann fährt der Bus weiter.

Liebe?

Ein Mann setzt sich gegenüber vom Mädchen in den Bus. Er schaut auf sein Handy. Er steckt es weg. Dann holt er ein Foto aus seiner Jackentasche. Er schaut es an. Seine Augen malen jede Linie des Fotos nach. Das Mädchen mit dem MP3-Player beobachtet seine Augen. Sie malen ein Gesicht. Ein wunderschönes Gesicht. Der Mann schaut wieder auf sein Handy. Er steckt es wieder weg. Seine Hände zittern etwas. Er sieht müde aus. Seine Kleidung ist verschmutzt. Arbeitsschmutz. Seine Augen malen das wunderschöne Gesicht. Wieder und wieder. Er schaut auf die Uhr. Der Bus hält an. Sein Handy klingelt. Das Mädchen mit dem MP3-Player nimmt ihrem Kopfhörer ab. Er holt eilig sein Handy aus seiner Tasche. Sie hört, wie der Mann sagt: „Daddy ist gleich da, Schatz.“, dann steigt er aus.

Einsamkeit?

Niemanden zu kennen ist keine Tragödie. Das Mädchen packt ihren Kopfhörer ein und hört ihrem eigenen Atem zu. Sie atmet ein und sie atmet aus. Ein Atmen voller Leichtigkeit. In einer neuen Stadt ist viel Platz, um zu atmen. Viel Platz für eine große Seele. Die Luft strömt durch ihre Nase in ihre Lunge. Sie atmet tief ein. Immer tiefer und tiefer holt sie Luft. Sie ist der Mittelpunkt ihres Universums und wenn sie wollte, könnte sie alle Galaxien, alle Sterne, alle Planeten, das schwarze Nichts und sogar sich selbst einatmen. Niemanden zu kennen ist wirklich keine Tragödie… Aber es wäre schöner, wenn sie vor irgendjemandem damit angeben könnte, wie tief sie einatmen kann. Sie blickt durch den Bus. Eine ältere Dame fängt geschickt mit ihrem wippenden Kopf die Schlaglöcher der Straße auf und ein dicker Junge kaut gelangweilt auf einem Kaugummi rum. Vermutlich hat niemand bemerkt, wie tief sie einatmen kann. Das Mädchen wird ein bisschen traurig. Aber eine Tragödie ist es nicht.

Zweisamkeit?

Die beste Freundin des Mädchens war ohnehin seit sie denken kann immer an ihrer Seite. Nicht jeden Tag in ihrer Nähe, aber zumindest hat das Mädchen jeden Tag gewusst, dass ihre beste Freundin noch da ist. Sie war mit ihr zusammen im Urlaub und auch als es dem Mädchen mal schlecht ging und es weinen musste, hat ihre beste Freundin sie getröstet. Ihre beste Freundin hat sicher gesehen, wie tief das Mädchen hier in der neuen Stadt einatmen kann. Leider hat sie nichts dazu gesagt. Die beste Freundin sagt generell nie irgendetwas zu dem was passiert.

Liebe?

Das Mädchen schüttelt sich kurz. Ihre Träumereien sind doch kindisch, sagt sie sich. Natürlich atmet sie völlig normal und natürlich sagt auch die Sonne nichts dazu, wenn ein Mensch auf Erden atmet. Das Mädchen dreht sich zum Fenster und schaut wieder aus dem fahrenden Bus. „Werd‘ erwachsen!“, sagt es sich. Und schaut weiter aus dem Fenster. Dann fängt sie an zu lächeln. Selten musste das Mädchen so von Herzen lächeln wie jetzt. „Niemals!“, sagt sie leise und streckt ihrem Spiegelbild ihre Zunge entgegen. Dann biegt der Bus ab und fährt das Mädchen sicher zu ihrem Ziel.

bus

Einsamkeit?

In der Heimat des Mädchens kitzelt die aufgehende Sonne Menschen aus ihrem Schlaf. Nicht viele. Nur ein paar. Nur die, die dem Mädchen Songs für ihren MP3-Player empfohlen haben. Mit verschlafenen Augen blicken die Menschen in die Sonne. „Wie geht es ihr?“, fragen die Menschen. Und die Sonne lächelt und sagt: „Hätte ich nicht aufgepasst, hätte sie MICH eingeatmet. Ich habe es aber dann doch ganz gut hinbekommen. Nun ist ihre Brust wieder erfüllt mit eurer Liebe. Ihr hättet ihr Lächeln sehen sollen!“
Zufrieden drehen sich in der Heimat des Mädchens Menschen in ihren Betten um und versuchen noch mal zu schlafen, bis der Wecker sie zu ihren täglichen Arbeiten ruft. Sie alle lächeln.

-Ende-


Episode 9

-Balkan-

Dämmerung:

Wie in einem jubelndem Kleid aus Licht, warmen mediterranem Licht, dass sich in den sommerlichen Wellen des steinigen Ufers spiegelt, bewegt sich ihr Körper zum Takt. Schritt um Schritt, Drehung um Drehung. Flammende Augen zerfleischen meine hilflose Seele mit souveräner Leichtigkeit. Ein Lächeln so schön und stolz wie die Berge ihrer Heimat besiegt meinen Blick. Ich schaue in mein Glas. Die Musik wird lauter. Ihre Bewegungen werden schneller.

Sternenhimmel:

Meine Augen beobachten die stille Bucht. Hinter mir spielt die Musik. Vor mir schlängelt sich warmer Wind durch karge Zypressen und streichelt mein Gesicht mit seinem salzigem Atem. Tanzende Schritte nähern sich. Ich nehme einen Schluck aus meinem Glas. Diesen einen Schluck, der mir nimmt, an was ich mich den ganzen vorherigen Abend habe festhalten können.
Zarte Haut berührt meine Hände, weiches Haar legt sich auf meinen Nacken. Tanzen ist nichts, das mich begeistert. Tanzen ist nichts, dass ich gut kann. Tanzen vor Fremden mit einer Fremden. Nichts wird mich dazu bewegen, meinen Platz hier an den Klippen zu verlassen. Nichts! Niemals!

Laternenhimmel:

Tanzen! Noch nie in meinem Leben habe ich mich so lebendig gefühlt. Tanzen ist der Sinn meines Lebens. Tanzen! Flammende Augen verbrennen meine Fusssohlen. Jede Sekunde, die ich ausruhe, wird zu einer schmerzhaften Rast. Die schönsten Zähne der Welt lächeln mich an. Mit offenem Mund bewegt sich mein Körper zu Klängen, die ich zuvor noch nie gehört habe. Klänge, die meine Seele tragen, als seien sie das Echo meines Herzschlags. Fingernägel schneiden sich voller Leidenschaft in meine Taille und malen blutige Liebesbekenntnisse auf meinen Rücken. Ich, das Raubtier, werde von meiner eigenen Beute zerfleischt. Ich, das Alphatier, folge jedem ihrer fremden Schritte. Kreisende Hüften nehmen mir die Kraft zu atmen, klatschende Hände wecken mich wieder auf.

Sonnenaufgang:

Erschöpft sitze ich an einem leeren Tisch und beobachte wie die Sonne durch ein tanzendes Lächeln entzündet wird und dankbar den Himmel hinauf klettert. Ihr Lächeln! Wunderschöne Hände jonglieren mit meinem Herzen, meiner Seele und meinem Verstand. Braungebrannte Schultern bewegen sich sanft wie Engelsflügel durch den lauen Morgen. Langsam schließen sich meine Augen und ich spüre wie noch immer der Takt des Südens meine Ohren verzaubert. Nach und nach entfernt sich die Melodie. Was bleibt ist der ruhige Rhythmus meines Atems und der Duft des Meeres. Und ihr Lächeln.

Sonne:

Grelles Licht schreit mir ins Gesicht. Zeit, aufzubrechen. Ich sammle meine Seele und meinen Verstand ein. Schon beginnt meine Rückreise in die Heimat. Mein Herz ist nicht zu finden. Dafür wohnt in mir nun etwas, dass mindestens genau so wundervoll ist und mir Leben schenkt. Ich sehe es jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe. Und dann höre ich auch diese Melodie. Ihre Melodie…

kolo

-Ende-


Episode 8

-Krähen-

Das Tor:

„Nebel! Nebel ist gut. Wisst ihr, Nebel ist etwas Wundervolles. Dann sehe ich nicht, wo die Reise hingeht. Ich folge nur meinen Instinkten. Nebel! Ich mag Nebel. Und ihr mögt ihn auch.“

Ein junger Mann geht durch die morgendlichen Straßen und scheint mit sich selbst zu reden:

„Schritt um Schritt geht es voran. Und ihr mögt das auch. Schritt um Schritt voran zu gehen. Im Nebel. Wundervoller Nebel. Keiner sieht wirklich, was man tut. Man ahnt es nur. Man hört es. Man riecht es. Man spürt es. Aber man sieht es nicht. Und dann denkt man, es sei nicht wahr, denn wahr ist nur, was man sieht und was man spürt, ist nie wahr. Und ihr spürt auch etwas, aber denkt es sei unwahr. Ich mag den Nebel.“

Die Kreuzung:

„Mir gefällt es nicht, dass ihr so ruhig seid. Ruhe ist gut, aber diese Ruhe ist gespielt. Ihr spielt eure Ruhe nur. Ist es euch hier zu hell? Sobald wir aus der Stadt sind, wird es weniger hell sein. Und niemand sieht euch dort. Dort ist es einsam. Und sicher ist dort auch noch Nebel. Wundervoller Nebel. Nebel, der alle anderen über euch im Unklaren lässt. Wisst ihr, ich mag euch alle und ich werde dafür sorgen, dass ihr mir nicht weggenommen werdet. Manch einer sagt, was ich täte, also, was ich mit euch täte, würde unweigerlich dazu führen, dass etwas Schlimmes passiert. Ihr braucht gar nicht so erschrocken zu schauen. Ich bitte euch. Jeder von euch trägt seine Narben, aber ihr seid noch immer alle beisammen. Und ihr mögt es, beisammen zu sein.“

Der Hügel:

„Möglicherweise. Möglicherweise tut man nicht immer das Richtige. Aber man tut das was man gewohnt ist, zu tun. Das muss nicht das Richtige sein, aber so wird es wenigstens nicht falscher. Was du liebst, das lass frei. Kehrt es zu dir zurück, gehört es dir. Für immer. Sagt man. Aber wer garantiert mir, dass es zurück kommt? Ihr zumindest kommt ganz sicher zurück. Ihr werdet keine andere Wahl haben. Aber ihr mögt es ja beisammen zu sein, also müsst ihr auch alle beisammen gehalten werden. Vor allem, wenn ihr bedenkt, dass es nebelig ist. Wie leicht kann man sich da aus den Augen verlieren? Nebel schützt dich, aber jeder Vorteil ist immer auch ein Nachteil. Du musst nur auf die andere Seite gehen. Nicht mit dem Licht schauen, sondern in das Licht hinein. Dann werden dir nicht die Gefahren beleuchtet, dann blenden sie dich und bevor du dich versiehst, frisst dich der Schmerz auf. Dann liegst du blutleer und halb erfroren in einer Pfütze aus mutloser Wahrheit. Du kannst loslassen und mit dem Licht fließen. Du kannst aufsteigen. Fliegen! Glück finden. Du kannst aber auch den Halt verlieren und stürzen. Ihr fliegt doch gerne. Ihr mögt fliegen. Aber im Nebel verliert man all zu schnell den Halt. Man kann sich nicht orientieren. Und wenn einem niemand den Weg ruft, wird man stürzen und den Schmerz spüren. Aber keine Angst. Ihr habt Angst? Ich auch. Aber das müssen wir nicht. Ich beschütze euch. Und ihr bleibt ja bei mir.“

Am Waldrand:

Ein junger Mann steht im Nebel und öffnet seinen Mantel. Nur die obersten drei Knöpfe. Unter unerträglichen Schmerzen und mit größter Anstrengung presst er seine Hände gegen seinen Brustkorb. Wenn man es genau betrachtet, drückt er eigentlich seine Fingerspitzen in seine Haut. Tiefer. Immer tiefer. Die Haut reißt. Das Fleisch offenbart sich. Blut rinnt an seinem Bauch hinab und tränkt seinen Mantel. Immer weiter bohren sich die Finger in ihn, bis sie schließlich vollständig eingedrungen sind.
Mit einer kurzen, schmerzhaften Bewegung öffnet der junge Mann seinen Leib, um anschließend mit äußerster Vorsicht einen Käfig voller Krähen zu entnehmen. Er stellt den Käfig ab und schließt seinen Mantel wieder.
Erschöpft öffnet er die Käfigtür.
„Leider habe ich vergessen wie ihr heißt. Aber ich habe nicht vergessen, wie schmerzhaft es für meine Freunde war, wenn sie einen von euch verloren hatten. Gewiss, die Freude war groß, wenn einer höher fliegen konnte als man dachte und am Ende nicht verloren ging. Die Freude war unermesslich groß. Ich möchte eher von Glück sprechen, denn von Freude. Aber die Trauer, wenn einer verloren ging, war grauenvoll. Ihr geht mir nicht verloren. Versprochen? Versprochen!“
Dann ließ er sie fliegen. Im Nebel. Und keiner konnte es sehen.

Vögel

-Ende-


Episode 7

-Farben-

Grau:

Grau! Grau war seine Haut. Grau war der Atem, der an diesem kalten Morgen durch die Luft tanzte. Er erschuf für Sekundenbruchteile Formen von erschreckender Schönheit. Graue Dämonen, die leer in eine graue Seele blickten. In eine erschöpfte Seele. In eine Seele, die aufgegeben hatte. Auch die Straße war grau und sein rotes Fahrrad verblasste ebenfalls nach und nach. Je schneller er fuhr, desto mehr Farbe verlor es. Seine Finger waren grau. Grau und steif gefroren. Über seine kalten, grauen Wangen liefen Tränen. Kalte Tränen, in denen sich die trübe Licht der ersten Tagesstunden spiegelte und unzählige bunte Regenbogen in das hoffnungslose Nass zauberte.

In seinem Zimmer lief noch immer sein Lieblingssong auf Repeat und eine besorgte Mutter saß auf einem leeren Bett und las einen Brief, den sie vor einigen Wochen schon ein mal in der Hand gehalten hatte.

Bunt:

Hallo…

Ich weiß nicht, wie ich es Dir beichten soll. So lange hast Du mir viel mehr geschenkt, als ich wert bin. Du hast mich zum Lachen gebracht und Du hast mich getröstet. Du hast mit mir geteilt und Pläne geschmiedet. Du hast mich gepflegt, wenn ich krank war und Du hast für mich gestritten, wenn mich jemand unfair behandelt hatte. Du hast für mich auf viele Dinge verzichtet und Du hast mir durch deinen Einsatz vieles, was ich alleine nicht erreicht hätte, ermöglicht. Nie wolltest Du mehr, als mich lächeln zu sehen. Nichts war Dir kostbarer als eine Umarmung von mir.
Und ich, ich habe das alles ebenfalls genossen. Ich habe es sehr genossen. Mehr noch! Ich habe Dir so oft in Deine Augen geblickt und aus tiefster Sehnsucht innerlich danach geschrien, von Dir geküsst zu werden. Unzählige tödliche Stiche versetzte es mir, wenn Du nicht den Mut fandest, mir zu geben, was ich in Deinem Herzschlag hören, was ich in Deinen Umarmungen fühlen konnte.
Die wundervollsten Erinnerungen meines Lebens beinhalten immer auch Dich. Ich kann nicht in die Sonne blicken, ohne Deinen Atem an meinem Nacken zu spüren. Ich kann nicht im See schwimmen gehen, ohne dass sich Dein Gesicht in jeder Welle spiegelt. Ich kann nicht die Augen schließen, ohne Deine Hand in meiner zu spüren. Leider ist jede dieser Erinnerungen auch mit viel Schmerz verbunden.

Und nun muss ich beichten. Diesen Brief schrieb ich lange bevor Du ihn lesen wirst. Ich habe Deine Mutter gebeten, ihn zu verwahren und ihn Dir am heutigen Tage auf Dein Bett zu legen. Nun weißt Du, dass ich Dich belogen habe. Heute werde ich nicht von einer Auslandsstudienreise zurückkehren. Heute werde ich weit weg von Dir versuchen, mein Leben zu leben, werde neu starten. Diese ‚Studienreise‘ gab es nie, aber ich wollte vermeiden, dass Du meine Abreise verhinderst. Es ging nicht anders. Verzeih mir das. Es war das erste und letzte Mal, dass ich Dich belügen werde.

Versteh mich bitte nicht falsch, ich werfe Dir nichts vor, es ist einfach so gekommen, wie es kommen sollte. Ich war bereit für Dich. Seit Jahren! Du aber sagtest immer, dass Du Dir noch unsicher seist, Du sagtest, Dir fehle das endgültige Etwas. Dieses Warten allerdings ist für mich inzwischen die Hölle geworden. Das Wort ist dramatisch, aber es stimmt: Die Hölle! Als ich als Kind meine Großmutter fragte, was denn die Hölle und was der Himmel sei, sagte sie: „Wenn man stirbt, lebt man noch einen letzten Tag so, wie man gelebt hätte, wenn man alle seine Chancen wahrgenommen und alle seine Potentiale ausgeschöpft hätte. Danach kehrt man zurück in sein gestorbenes Ich und bleibt in dem Zustand, in dem man starb, für alle Ewigkeit. Wenn du nach diesem letzten Tag dein Leben bereust, ist es die Hölle, wenn du aber glücklich über das bist, was du aus dir gemacht hast, ist es der Himmel.“ Und leider hatte ich die letzten Wochen das Gefühl, dass ich etwas bereuen werde, wenn ich mich nicht weiterentwickle.

Lass mich nicht auf die Hölle zusteuern, lass mich in den Himmel kommen. Bitte respektiere meinen Wunsch. Bitte such mich nicht. Bitte gib mir die Freiheit, die Zeit und die Möglichkeit, Dich zu vergessen und das Glück, das in meiner Brust schläft, freizulassen. Und wenn das Schicksal will, kreuzen sich unsere Wege eines Tages wieder. Ich hoffe, dass wir uns dann freuen, uns zu sehen. Etwas anderes kann ich mir aber eigentlich gar nicht vorstellen.

Ich halte diesen Brief kurz und habe versucht, Dir klar und deutlich zu vermitteln, was ich möchte. Das zu tun, hat mich viel Kraft, Mut und Tränen gekostet, aber nun fühle ich mich befreit und freue mich auf meine Zukunft.

Ich wünsche Dir nur das Beste!
In Liebe…

Grau:

Auf dem Bett sitzend, blickt die Mutter voller Kummer auf die gegenüberliegende Wand. Dort, wo sonst eine schwere schwarze Winterjacke die Tür verdeckt, grinst ihr nun teuflisch blankes Eichenholz in ihr besorgtes Gesicht. Graues Eichenholz! Dort, wo sonst die alten schwarzen Stiefel den Teppich erdrücken, frisst sich graues Nichts die Wand hinab und nagt am Boden, verpestet die Luft und drückt den Schrei, der sich der Mutter die Kehle hinauf brennt, wieder in ihre Brust. Grauer Beton versiegelt ihre Kehle. Nur aus ihren Augen leuchtet glühender Schrecken. Mutterinstinkt! Der Sohn auf dem Weg in die Hölle!

Schwarz:

Schwarz! Und leise! Unendlich leise! Es ist so leise, dass man nicht einmal die Stille hört. Dieses Rauschen der Stille, das Brummen des Nichts. Nicht einmal das hört man. Kurz hatte er noch das Rot seines Fahrrads vor Augen, dann gab es nur noch schwarz. Das Schwarz der Stiefel und das der dicken Winterjacke vermischt mit dem Schwarz seiner Angst und dem Schwarz der Stille. Aber es gab auch unerträglichen Lärm. Bis gerade eben noch. Lauter wurde es, immer lauten und dann schlagartig leise. Und schwarz.

Grau

Bunt:

Plötzlich fängt es um ihn herum an wieder an, lauter zu werden. Leise schleichen sich die ersten Töne durch seine Haut in sein Herz. Er hört Meeresrauschen und spürt wärmende Sonne auf seiner Haut, die seine Seele langsam wieder aufzutauen beginnt. Weicher Sand streichelt und trägt seinen ungewöhnlich gut trainierten Körper und nicht weit von ihm, scheint ein Hund zu bellen. Dann spürt er warmen Atem und einen Wimpernschlag danach Lippen auf seiner Stirn. Die weichsten Lippen, die man sich vorstellen kann. Die wärmsten Lieppen. Die buntesten Lippen! Er fühlt es. Er fühlt die Farbenpracht. Er fühlt sie! Sie! Er spürt sie! Er schmeckt sie! Er riecht sie! Vorsichtig öffnet er seine Augen und dann, dann sieht er sie. Sie! Er hatte es so gehofft, als er auf den Bahndamm geklettert war. Er hatte es so sehr gehofft. Er lächelt. Noch nie in seinem Leben, war er so unendlich von Zufriedenheit, Wohlsein und Glück erfüllt. Er lächelt und lächelt und lächelt. Ihm bleiben noch 23 Stunden und 58 Minuten…

-Ende-


Episode 6

-Frühling-

Juli:

Ein Junge, kaum älter als die Zeit, sitzt auf einem Stein und blickt in den Himmel. Um seinen Hals trägt er an einer eisernen Kette sein Herz. Wie ein wilder Hengst reißt das Herz an seiner Kette. Es windet und dreht sich, es zieht und gibt wieder nach. In seinem unbändigem Gezerre fügt es sich Narbe über Narbe zu. Es springt, faucht und kratzt. Es stößt sich und erdrosselt sich beinahe. Es rastet kurz, wartet auf einen günstigen Moment und beginnt seinen Kampf gegen das versklavende Metall erneut.
Der Junge aber liegt unbeteiligt auf seinem Rücken, kaut verwegen auf einem Grashalm und brennt mit seinem Blick Gräben in die Sommerwolken. Schönes zu zerstören, DAS ist seine Bestimmung! Aber fühlen kann er nichts.

Oktober:

Ein Junge, kaum größer als die Erde, sitzt auf einem Baumstamm und blickt ins Tal hinab. Um sein Handgelenk trägt er ein festes Tau, an dessem anderen Ende sein Herz die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen einzufangen versucht. Unzufrieden dreht es sich auf der feuchten Wiese von einer Seite auf die andere, es stöhnt und zetert. Es sucht sich einen neuen Platz, nur um noch unzufriedener zu sein. Es steht auf, tritt einige Grashalme in die Luft, fängt an zu hüpfen und du rennen, stolpert schließlich über das lange Tau und bleibt danach resigniert im Schatten unter der kleinen Birke liegen.
Der Junge aber sitzt unbeteiligt auf dem Baumstamm, kaut in sich gekehrt auf seinen Fingernägeln und baut mit seinem Blick dunkle Mauern um die grüne Wiese. Schönes zu besitzen, DAS ist seine Bestimmung! Aber fühlen kann er wieder nichts.

Januar:

Ein Junge, kaum schneller als der Wind, steht am Ufer des Sees und blickt über die vereiste Fläche. Neben ihm hockt, ohne eine Kette oder ein Tau, sein Herz. Ihm ist viel zu kalt, als dass es die Gelegenheit nutzen würde. Wo solle es auch hin? Wer würde es wärmen? Wer würde es nähren? Wer würde es pflegen? Das Herz pustet in seine Hände und reibt sie aneinander. Warm wird ihm dadurch nicht, aber vielleicht merkt der Junge ja dadurch endlich, dass es Zeit wäre, einen angenehmeren Ort aufzusuchen.
Der Junge aber steht unbeteiligt am Ufer des Sees, lutscht unbeteiligt an einem Eiszapfen und zeichnet mit seinem Blick Kunstwerke auf die vereiste Oberfläche. Schönes zu erschaffen, DAS ist seine Bestimmung! Aber fühlen kann er auch dieses Mal nichts.

April:

Ein Junge, kaum merkwürdiger als das Leben, schwebt mit ausgebreiteten Armen über das Land. Unter ihm sein Herz, das ihn trägt. Mit großer Sorgfalt aber ohne Furcht steigt es höher und höher. Keine Kette, kein Tau und keine Kälte hindert es mehr daran, seine Kraft zu entfalten. Lange hatte es gedauert, bis verstanden wurde, dass man ein Herz nicht lenken kann, das man es nicht einschränken darf. Lange hatte es gedauert, bis genug Vertrauen entstand, dem Herz das Schicksal-Zeichnen zu überlassen.
Der Junge aber thront auf dem Herzen, ist noch immer verwundert darüber, welch‘ kräftige Schwingen ihn nun mit Leichtigkeit tragen und küsst mit seinem Blick alles, was durch den Frühling zu Leben erweckt wird. „Schönes fühlen, DAS ist deine Bestimmung!“, sagt der erste Schmetterling des Jahres und noch bevor die Worte das Ohr des Jungen erreicht hatten, war er verliebt…

Hügel

-Ende-