-Sklave-
Gefangen in einem Palast aus warmer Kaminluft und verstaubten Kinderfotos, blicke ich auf dem Sofa liegend an die Decke. Die Zeit höchstpersönlich scheint neben mir zu liegen, hat die Sprintschuhe ausgezogen und die Beine hochgelegt. Nur keine Eile! „Diese ganze Hektik wird keinem von uns vor Dingen bewahren, die weh tun!“… Ich denke nach über diesen Satz, den meine Oma so beiläufig erwähnt.
„Ganz im Gegenteil! Wenn jemand sich das, was er tun will, in einen Kalender eintragen muss, damit er es nicht vergisst, hat er den Respekt vor all diesen Dingen oder Menschen verloren. Dieser Mensch ist nur noch ein Sklave von Verpflichtungen.“
Ich drehe mich auf die Seite. „Aber du bist doch auch genau so ein Sklave deiner Verpflichtungen? Ob man sie nun aufschreibt oder sich merken kann, spielt doch keine Rolle.“
Meine Oma lächelt und steht auf. Sie geht in die Küche. „Möchtest du auch einen Tee?“, ruft sie.
Obwohl meine Oma im Grunde keinen anderen Tee als ich selber kauft, schmeckt ihrer besser. Er schmeckt lebendiger. Er schmeckt reeller und ich verbrühe mich nicht so schnell daran. Wieso hat bei Großeltern alles irgendwie mehr Seele als bei jungen Menschen?
Meine Oma nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse und lehnt sich zurück. Ich beobachte sie dabei und erkenne, dass jede Faser ihres Körpers erst auf das Trinken und dann auf das Zurücklehnen konzentriert ist. Habe ich schon jemals in meinem Leben eine bewusste Alltagsbewegung vollzogen? Ich erschrecke vor mir selbst, als ich merke, dass auch ich mich inzwischen hingesetzt und vom Tee getrunken habe.
„Ein Bauer, der 10 Rinder hat, kennt alle seine Rinder beim Namen und er ist auch für die Rinder so oft präsent, dass auch sie ihn kennen lernen. Wir alle sind Sklaven unserer Bedürfnisse. Der Bauer füttert seine Rinder und die Rinder füttern irgendwann den Bauern. Aber Bedürfnisse sind Verpflichtungen, die einem unumgänglichen Zweck dienen und die ein respektvolles und fürsorgliches Miteinander voraussetzen. Ein Bauer hingegen, der 200 Rinder hat, … du kannst dir denken, worauf ich hinaus will. Was daran fürsorglich oder respektvoll sein soll, Aktivitäten in einen Zeitplan zu quetschen, das muss man mir auf meine alten Tage wirklich noch mal erklären. Und ganz bestimmt gibt es zwischen vielen dieser Terminteilnehmer keine weitere Beziehung als das Geldverdienen und wenn deine Verpflichtung dich zu Taten zwingt, ohne dass Respekt und eine tiefere Beziehung existieren, dann empfinde ich das so, als würde ein Herrscher einen Sklaven vor sich her treiben.“
Ich ertappe mich, wie ich mit tiefen Furchen auf der Stirn in meinen Tee starre. „Aber es ist halt leider anders kaum möglich, sein Leben so aufzubauen, dass man so viel Geld verdient, dass man damit zufrieden seine Tage gestalten kann.“
„Das einzige, was dich zufrieden machen kann, ist Liebe! Die Liebe zwischen Familienmitgliedern, zwischen Freunden oder zwischen Mann und Frau… Oder zwischen Partner und Partner, heutzutage spielt das ja nicht mehr so eine Rolle, wer was ist und weshalb. Aber am Ende zählt die Liebe! Und wer sich zum Sklaven macht, der verlernt zu lieben. Wer zu viel macht, schafft keine Wertschätzung für das, was er tut und was resultiert daraus? Er verlernt zu lieben. Wer auf zu vielen Hochzeiten tanzt, ist zwar immer da, wenn man ihn braucht, aber schon wieder weg, wenn man ihn lieben möchte. Und was bedeutet das? Er verlernt auch, sich lieben zu lassen. Es hat einen guten Grund, wieso viele Menschen auf der Welt den Tod in Kauf nahmen, um zu verhindern, dass es weiterhin Sklaven gibt. Aber die Herrscher der Welt haben einen neuen Weg gefunden, sich Sklaven zu halten. Und den meisten ist es egal, weil sie verlernt haben, zu lieben oder sich lieben zu lassen. Es fehlt ihnen ja also am Ende auch nichts. Noch nicht…“
Ich trinke meinen Tee aus und lege mich wieder auf das Sofa. Neben mir liegt die Zeit. Sie hat ihre Sprintschuhe wieder angezogen und zwinkert mir mit einem Auge zu… Dann ist sie weg…